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Stadt in Sicht (1923)

 

HENRIK  GALEEN D  1922 Darsteller Edith Posca, Friedrich Traeger, Otto Treptow, Harry Nestor Produktion Rex-Film GmbH, Berlin 35 mm/1:1,33/Schwarzweiß stumm 60  Minuten Filmarchiv Austria        Stadt in Sicht galt bisher als eine der verschollenen Arbeiten von Henrik Galeen, umso größer war die Sensation, als im Zuge der Katalogisierungsarbeiten des Filmarchiv Austria eine praktisch vollständig erhaltene Kopie in den Nitrobeständen des Filmdepot Laxenburg identifiziert werden konnte. Schon nach der ersten Sichtung war klar, dass dieser Fund zu den großen internationalen Archiventdeckungen des Jahres zu zählen ist. Schon zeitgenössische Kritiker zeigten sich von Stadt in Sicht bei Pressevorführungen beeindruck: «Das Sujet, welches nahezu vollständig die Einheit der Zeit und des Ortes respektiert, ist als sehr packend anzusprechen, die Darstellung durch ein gut abgestimmtes Ensemble sehr wirkungsvoll, schöne Uferbilder als Rahmen in vorzüglicher Photographie.» (Paimanns Filmlisten, Wien, Nr. 377, 23. Juni 1923). Und anlässlich der Berliner Erstaufführung berichtet Max Preis: «Ein gutes, feines, verdichtetes Werk, im Kielwasser der Gedanklichkeit und der Psychologie hinstreichend; durchaus im Schlepptau künstlerischen Wollens und Vermögens. Jede Situation bildhaft dem Gedanken, dem Symbol angepasst, und jede Szene photographisch geistreich festgehalten. Wasserbilder, Spiegelungen von köstlichstem und seltenstem Reiz.» (Der Kinematograph, Düsseldorf, Nr. 836, 1923). Stadt in Sicht glänzt mit einer im Weimarer Kino nur selten gesehenen Inzenierung der Exterieurs – Galeen stellt ein Salonstück in die freie Natur; der ganze Film spielt auf einem Schleppkahn – verwebt ein dichtes Kammerspiel mit dokumentarischen Außenaufnahmen zu einem schlichten, kleinen Meisterwerk, dessen realistische Anmutung und poetische Kraft noch heute überraschen. Vergleiche mit Jean Vigos zehn Jahre später entstandenem Tonfilm L’Atalante erweisen dem Film erst die halbe Reverenz, denn die eigentliche Leistung Galeens liegt im Ausschöpfen der Bildmächtigkeit und im bewussten Einsatz der spezifischen optischen Codes des stummen Kinos. Viragen, die Einfärbung des Bildes über ganze Sequenzen – oft als banale Stimmungs-Metapher eingesetzt – werden bei Galeen zu einer klaren, realistischen Sprachlichkeit gebracht. Wenn die naturalistisch gefärbten Innenaufnahmen gegen die nüchterne Schwarzweißfotografie der Außenaufnahmen montiert werden, überwindet Galeen das alte Kino der Effekte und findet zu einem zarten Realismus mit Anklängen an die besten Arbeiten des französischen Filmimpressionismus. Die erhaltene Filmkopie von Stadt in Sicht wurde bei Haghe-Film in Amsterdam auf Sicherheitsmaterial umkopiert. In einem tschechischen Speziallabor erfolgte anschließend die manuelle, genau der Nitrofilmvorlage entsprechende chemische Färbung der einzelnen Sequenzen mittels authentischer Rezepturen, womit eine optimale Vorführkopie als handgefertigtes Einzelstück hergestellt werden konnte. Drei Menschen, die in kleinsten Verhältnissen sozusagen glücklich leben, denen die Einfachheit etwas Selbstverständliches ist. Der alte Schiffer Ullrich liest in der Abendstunde in der Bibel, seine Frau Anna kocht und strickt, und der Bootsmann Fritz liebt die Frau des Zillenbesitzers, aber züchtig und einfältig. Und er will den Kahn verlassen, sich als Vollmatrose bei der Hochseeschiffahrt anheuern lassen. Ullrich will ihn nicht ziehen lassen: sie haben bisher doch so gut miteinander gelebt … Da tritt Fredy ins Leben der Drei. Er ist ein Artist der üblen Sorte, wie es diese in jedem Beruf gibt: mehrfach vorbestrafter Verbrecher und zuletzt Steptänzer. Und ihm erliegt Anna. Dem Burschen Fritz zu widerstehen war nicht schwer, der war ein rechtschaffener Junge ohne Wünsche und Forderungen - aber: die Stadt ist in Sicht, und hier ludert der Abschaum der Menschheit umher, hier herrscht die Niedertracht, siegt und zerstört die brutale Gewalt. STADT IN SICHT - heißt: Gefahr im Verzuge, die Sünde lauert, das Verbrechen droht, Unheil brütet … Das Manuskript von Henrik Galeen und Fr. Sieburg erweckt den Anschein einer Episoden-Ausspannung. Dabei ist der Film in seinen technischen Teilen von ausgesuchter Feinheit; die Photographie der Wasserflächen hat die Lichter und die Stimmung prachtvoll erfaßt, und das Mitgehen des Bildes mit den beweglichen Objekten ist stellenweise von einer überraschenden Liebe zur Sache diktiert. Einige Großaufnahmen sind von starkem Reiz, und die Ausschnitte aus dem Landschaftlichen sind charakteristisch gewählt, wenn auch im Schnitt ein einmal gewählter landschaftlicher Typus nicht immer sorgfältig durchgehalten wurde. Mit Überblendungen ist erfreulicherweise sehr gespart worden. Die Regie Henrik Galeens zeigt sich vorwiegend im Gesamtbild, im Erhaschen des rechten Momentes und der sorgfältigen Wahl des Milieus. Darstellerisch sind Friedrich Taeger (Ullrich) und Otto Treptow (Fredy) sehr gut, Taeger erreicht in seinen Schlußszenen eine heiße, innerliche Kraft, und Treptow macht aus dem Gewaltmenschen dann und wann einen zum Lächeln reizenden Komödianten, um das Abstoßende dieses Mißratenen zu mildern. Man müßte ihm öfter im Film begegnen; er bringt eine Persönlichkeit mit und schnellt leicht und sicher von einem Ausdruck zum anderen. In der Rolle des Fritz erscheint Harry Nestor knapp in der Geste, und als Anna muß Edith Posca genannt werden. (J-s., in Film-Kurier, Nr. 34, 9.2.1923) Vergleiche mit Jean Vigos zehn Jahre später entstandenem Tonfilm L'ATALANTE erweisen dem Film nur die halbe Reverenz, denn die eigentliche Leistung Galeens liegt im Ausschöpfen der Bildmächtigkeit und im bewußten Einsatz der spezifischen optischen Codes des stummen Kinos. Viragen, die Einfärbung des Bildes über ganze Sequenzen - oft als banale Stimmungs-Metaphern eingesetzt - werden bei Galeen zu einer klaren, realistischen Sprachlichkeit gebracht. Wenn die naturalistisch gefärbten Innenaufnahmen gegen die nüchterne Schwarzweißfotografie der Außenaufnahmen montiert werden, überwindet Galeen das alte Kino der Effekte und findet zu einem zarten Realismus mit Anklängen an die besten Arbeiten des französischen Filmimpressionismus. (Ernst Kieninger, in: Viennale 2001 Katalog) Mir scheint der Film deswegen so herausragend, weil er mit den Viragen äußerst bewußt umgeht. Und zwar in einer Weise, wie es für einen Film von 1923 sehr ungewöhnlich ist. Exterieurs (und es gibt sehr viele davon) erscheinen grundsätzlich schwarz-weiß. Sie stechen damit von der sonst üblichen „Totalvirage" eines Films ab. Für mich unterstreichen sie einen sehr individuellen Anspruch; der Autor scheint zu sagen: „In meinem Film gibt es viel Natürliches, Ungestelltes, aus dem 'echten' Leben Genommenes, die Poesie des Natürlichen." Aber auch die Viragen sind diesem Naturalismus unterworfen. Interieurs sind amber/orange und geben einfach das wärmere Spektrum des künstlichen Lichts wieder. Was es sonst noch an Farben gibt (es ist nicht viel), ist genauso passend: Die unvermeidliche blaue Nacht und der rosa Sonnenaufgang. Einige Nachtsequenzen sind sogar tatsächlich nachts gedreht. (Das ist aber nicht gar so selten.) Mich rührt der Film auch in seinem lieben Antimodernismus. Das Boot steht für die überschaubaren, vormodernen Lebensformen. Die Stadt, Symbol des Fortschritts, dringt in Gestalt des Verbrechers ein. Dieses Konstrukt eines Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft war damals politisch sehr virulent. (Nikolaus Wostry) Musik: Gerhard Gruber, Adula Ibn Quadr, Peter Rosmanith